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Spiritualität in der Begleitung alter und sterbender Menschen

von Erhard Weiher

Im folgenden werde ich zunächst nicht speziell katholisch, auch vielleicht nicht speziell christlich argumentieren, sondern eher religiös-spirituell. Krankheit, Sterben und Trauer mußten Menschen zu allen Zeiten bewältigen - das braucht keine spezifische Therapie, die z.B. das Sterben "besser" machen würde. Wohl brauchen solche Lebensereignisse offensichtlich eine Lebensdeutung (vgl. z.B. die Streßforschung, die Salutogenese von A. Antonowsky und die Ergebnisse der modernen Todes-Nähe-Forschung. Danach greifen Menschen in Todes-Nähe auf transzendente Ressourcen zurück - nicht vom Bewußtsein gesteuert. Es sieht so aus, als ob die Fähigkeit zur transzendenten Deutung im Gehirn verankert sei).

Die Ausgangsfrage meiner Überlegungen ist: Wie paßt die Ebene und die Sprache der Spiritualität in den Medizinbetrieb hinein ?

Sterben, Krankheitsbewältigung, Krisenverarbeitung können als Lernprozesse beschrieben werden. Menschen müssen auf Widerfahrnisse des Lebens reagieren und diese verarbeiten und sie in ihr Leben einbauen. Ich gehe hier von den 3 Lernfunktionen aus: DENKEN / FÜHLEN / TUN: Menschen reagieren mit DENKEN/FÜHLEN/TUN auf Einflüsse/Ereignisse in ihrem Leben, um damit fertig zu werden.

DENKER: Menschen, die auf Krisen, Verlust mit Denken reagieren, die in der Rat-losigkeit versuchen, die gestörte Welt wieder 'zusammenzudenken'.
TUER: Menschen, die als erstes mit Aktivität reagieren, die die Ohnmacht zu überwinden suchen, von Arzt zu Arzt gehen ... .
FÜHLER: Menschen, die als erstes mit ihren Gefühlen reagieren, ihren Gefühlen freien Lauf lassen.

Wichtig: Das sind Erstreaktionen; wo der einzelne anfängt, das resultiert aus seinem persönlichen Lernmuster. Meist sind die Betroffenen bald fähig, auch die anderen Lernfunktionen einzubeziehen. Alle Anteile sind wichtig, keine darf abgewertet werden ("der ist ja nur im Kopf ....").

Ebenso reagiert die Gesellschaft und ihre Medizin mit diesen Kanälen:
Hauptkanäle sind das DENKEN und das TUN:
" Medizin: Naturwissenschaftliche Konzepte: DENKEN und diese in objektive Handlungen (OP, Medikamente) umsetzen.
" Die Pflege war lange Zeit nur durch TUN definiert - den Patienten körperlich versorgen und die Anweisungen der Medizin ausführen. Inzwischen ist allerdings die Pflegewissenschaft dabei, dieses Verständnis zu überholen und Pflege als eigene Profession auszubilden.

DENKEN/FÜHLEN/TUN sind in eine Endlos-Schleife eingeordnet: Alle Anteile in dieser Schleife sind wichtig. (Abb. 1)
In der Klinik ist der Erstansatz der Professionellen oft nur das DENKEN oder das TUN; der FÜHL-Bereich ist nicht vorgesehen, im System nicht vorgesehen, in den Rollen nicht vorgesehen, wohl bei den einzelnen Personen vorhanden. Das ist ein Problem, das löst viel Kritik aus, auch viel ungerechte Kritik, weil die einzelnen Rollenträger ja nicht über die Grenzen ihrer Rollen hinausgehen dürfen. Die Gesellschaft fordert und fördert die effektivsten und objektiv kontrollierbaren Methoden gegen Krankheit und Tod. DENKEN/wissenschaftliche Konzepte und effektives TUN gelten als die förderungswürdigsten Vorgehensweisen gegen die Krankheit.

Zu jeder dieser Reaktionen läßt sich eine Begriffs- und Assoziationswelt entwickeln:
DENKEN: Naturwissenschaftliche Modelle, etwas objektiv-medizinisch anschauen (ein Objekt entsteht dadurch, dass man die subjektunabhängige (also von konkreten persönlichen Raum-/Zeit- und individuell-lebensgeschichtlichen Umständen unabhängige) Struktur herausarbeitet und den subjektiven Anteil weg läßt). Der Arzt bringt natürlich auch seine menschheitliche Erfahrung in sein Handeln ein, sein Wissen vom Menschen (Psychologie, Philosophie, Religion ...).
FÜHLEN: Das ist die Innenwelt, das Erleben, persönliche Bilder, Lebensgeschichte, Erinnerungen, Werte, Träume ... .
TUN: Instrumentell handeln, behandeln, pflegen, - aber auch: den Leib als Haus der Seele verstehen und Beziehung aufnehmen.
Diesse Assoziationskette gilt für die Krankenhaus-Welt.

Es gibt aber auch eine anthropologisch-spirituelle Assoziationswelt: Das Denken wird nicht von der Medizin besetzt, sondern Menschen haben auch andere denkerische Konzepte im Umgang mit Krankheit und Lebenskrisen, z.B.:
DENKEN: Religiöse, geistige und philosophische Konzepte, Symbolwelten, Heilige Schriften, Lebenswissen. Menschen denken über Krankheit, Leben, Lebensgeschichte nach.
ERLEBEN: Persönliche Symbole, Spiritualitäten, Erinnerungen, persönliche Werte .... Heutzutage sind die Lebensbilder sehr individualisiert: Jeder kann und muss sich vom Leben und Sterben sein eigenes Bild machen. Früher haben die Religionen eine gemeinschaftliche Anschauung und gemeinschaftliche Werte angeboten.

Ein wichtiger Schritt in diesem Grundmodell ist:
DENKEN/FÜHLEN/TUN - das kann es noch nicht alleine sein, das reicht noch nicht, um Menschen in Krisen zu verstehen und zu begleiten.Was sie brauchen, über sich sagen und ausdrücken, dazu braucht man auch die ZWISCHENRÄUME.

(1) Erster Zwischenraum: DAS BEGLEITEN, die Verbindung von FÜHLEN und TUN. Begleiten ist nicht Aktivismus - nicht einfach Handeln (z.B. medizinisch) sondern einfühlendes Dabeisein und mich auf den Prozess des anderen einlassen. Mich dem Leid des Anderen wirklich zuwenden, nicht daran vorbeireden oder -hören oder -handeln. Aktives Zuhören. Beziehung zum Kranken und Sterbenden, nicht: "Kopfhoch - das wird schon wieder". Sondern Gefühle wahrnehmen und gelten lassen, nicht ausweichen, Gefühle nicht ausreden... . Zur Begleitungspraxis gibt es eine lange Tradition, viel Literatur und Fortbildungsmöglichkeiten. Dazu gehört auch die Gesprächsführung, aber auch z.B. die basale Stimulation, die Berührung eines Menschen. Das soll hier nicht ausgeführt werden, es geht ja um spirituelle Begleitung. Aber: Das Begleiten ist die Basisqualifikation, Spiritualität geht nicht daran vorbei, frommes Reden, das das Leiden wegreden und zudecken soll, ist ein Kunstfehler.

In der mitmenschlichen Begegnung ist bereits eine spirituelle Dimension enthalten. Die liebevolle Zuwendung und Haltung der Helfer schafft für den Patienten einen Raum, in dem er sich wertgeschätzt erfahren kann - über seine Altersschwäche, seine Defizite, seine Verwirrtheit ... hinaus. Aber auch wertgeschätzt mit z.B. seinen oft schwer erträglichen Äußerungen, der Depression, der Resignation, mit seiner Unansehlichkeit, seinem Geruch, seinem Sich-selbst-fremdsein. Dieses Angenommensein kann ein Symbol sein, das der Patient auch als Angenommensein durch Gott und heilige Mächte deuten kann.
Also in der Haltung der Helfer ist bereits Spiritualität enthalten, die der alte Mensch spüren kann, die also eine Wirkung darauf haben kann, wie er mit Alter, Krankheit, Hinfälligkeit lebt. -

(2) Zweiter Zwischenraum: DIE SYMBOLISIERUNG
- also die Verbindung von persönlichem Erleben und allgemeinen Lebenskonzepten.
Ein Beispiel: Eine Patientin sagt: "Stellen Sie sich vor - vor zwei Wochen habe ich noch in meinem Garten gearbeitet".
Diese Patientin legt Spuren in ihren Worten, in Gesten, in der Art, wie sie etwas betont oder übergeht, was sie von ihrem Inneren äußert und vorzeigt. Diesen Spuren gilt es nachzugehen, diese Spuren legen Patienten nicht nur beim Pfarrer, sondern bei allen Helfern. Eine umfassende Begegnung mit Menschen findet in den Zwischenräumen statt. Zum Beispiel wenn ein Kind aus der Schule kommt, sagt es: "Mama, wann gibt es Essen?" Das Kind sagt nicht direkt "ich habe Hunger" (Fühlen), sondern es verschlüsselt seine Aussage. Die Aussage wird kodiert, der Hörer muss sie dekodieren; z.B. kann das Kind damit meinen "ich habe Hunger" oder "ich will vorher noch etwas spielen" oder "ich freue mich auf den Papa, wenn er zum Essen kommt" usw. .
Was könnten die Spuren der Patientin in dem Beispiel mit dem Garten bedeuten?

In dieser Aussage möchte ich (nach G. Hartmann, Lebensdeutung, 1993) vier Dimensionen unterscheiden:
" Die SACHDIMENSION: "Ich habe einen Garten, das macht viel Arbeit, jetzt blühen sicher die Schneeglöckchen...".
" Die GEFÜHLSDIMENSION: "Ich mache mir Sorgen, ob ich bei dieser Krankheit wieder darin arbeiten kann, in meinem Alter noch ...".
" Die IDENTITÄTSDIMENSION: Der/die bin ich - das kann ich, ist mir wichtig, dort fühle ich mich kompetent (im Krankenhaus/Altenheim: Inkompetent, abgeschnitten, niemand sein). Sorge, ob sie die noch ist, bei dieser Krankheit.
" SPIRITUELLE DIMENSION: Der Garten drückt etwas aus von
der Ordnung des Lebens
der Güte der Dinge: Wachstum / Geschmack / Jahreszeiten /Schöpfung/ Rhythmus,
"Alles ist gut" (P.L. Berger),
Man bekommt ein Gleichnis für Leben, Werden und Vergehen, das Leben als Geschenk... .

Was davon zutrifft bei dieser Patientin, das muss der Seelsorger/Begleiter in einem Feedback-Prozess herausfinden (z.B. Seelsorger/Krankenschwester: "Ist das Ihr kleines Paradies ?").
SYMBOLISIERUNG ist die Möglichkeit, aber auch die Kunst der spirituellen Erschließung.
These: Jedes Wetter, jeder Gegenstand, jedes Gefühl usw. kann zum Symbol werden (Traum, Bild an der Wand, Spruch, Bild auf dem Nachttisch von der Familie, den Enkeln, OP-Wunde, Leib, Sport usw.). Wichtig ist im Gespräch mit Klienten/Patienten deren Bedeutung gelten lassen. Aber auch die Ambivalenzen "hören" z.B. beim Thema Sonnenuntergang: Das kann heißen Friede, Schönheit, Urlaub, aber auch Nacht, Vergehen, Trauer - oder beides zugleich.
Oder das Bild vom Enkel auf dem Nachttisch: "Soviel Leben!": Die sind jung. Ich bin stolz auf sie, das Leben geht weiter. Aber auch: Ich bin alt, werde weniger, sehe das Ende, Lebensbilanz.

Symbole, Bilder, Begriffe haben eine KLEINE TRANSZENDENZ: "Das ist mir wichtig", der Patient deutet sich: "So sehe ich mich", er übersteigt die reine Sachwelt. Symbole bedeuten eine vertiefte Wahrnehmung, sie weisen über sich selbst hinaus.
Symbole haben aber noch einen größeren Bedeutungsumfang: Sie sind aufgeladen mit Bedeutungen aus der Geschichte der Menschheit, der Literatur, der Psychologie, dem Alltag, dem Menschheitswissen: Enkel/Haus/Garten/Wandern/Essen... haben eine spirituelle Bedeutung und Unterschwingung. Das ist die MITTLERE TRANSZENDENZ (z.B. Garten: Da nehme ich teil an der Ordnung des Lebens, an der Ordnung der Welt oder: da habe ich gelernt, was Mühe und Schweiß bedeuten).

Der spirituelle Begleiter hält dem Patienten das Symbol hin: "Ist es das ?" Paßt mein Schlüssel zu deinem Schloss ? Schließt es dir etwas auf (z.B. "Ihr kleines Paradies?"; da bekommt die Patientin Tränen in die Augen: als Zeichen von Glück und evtl. Trauer zugleich). Die Spur könnte auch auf etwas anderes hinführen: Zu großer Garten, überfordert, zu viel Arbeit, dabei habe ich mich verbraucht. Dann könnte eine spirituelle Antwort vielleicht heißen: "Dornen und Disteln".
Der zweite Zwischenraum fordert dazu heraus, das persönliche Erleben (FÜHLBE-REICH), die persönliche Geschichte an das Menschheitswissen (DENKEN) anzuschließen; also die "kleinen Symbole" mit den "großen" der (religiösen) Weisheit in Beziehung bringen.

Der Begleiter ist nicht nur Spiegel für den Patienten ("ach ja, Sie konnten noch vor zwei Wochen im Garten arbeiten?" Oder: "Das kenne ich, ich habe auch einen Garten"). Er spricht auch nicht nur die Gefühle an ("und jetzt sind Sie traurig, dass Sie ..."), sondern der Begleiter bringt bereits eine Transzendenz mit. Die Transzendenz bringt er als Vertreter der Gesellschaft mit: "Der Pfarrer, die Krankenschwester, der Arzt sollten hören was ich, der Patient, kann, mir wichtig ist, wer ich bin". Die Spiritualität hat eine FELD-DYNAMIK: Im Feld des Seelsorgers und des Krankenhauses wacht eine bestimmte Spiritualitätsebene auf. Die Felddynamik, die der Seelsorger mitbringt, löst eine andere Spiritualitäts-Kommunikation aus, als die beim Arzt oder der Pflegeperson. Der Arzt hat z.B. für den Patienten auch die Rolle des Weisen oder des Priesters (der ihm das Ende des Lebens ankündigt oder noch viele Jahre garantiert). In der Felddynamik des Seelsorgers kommt die GROSSE TRANSZENDENZ in Resonanz. Das Gespräch, das Symbol hat im Hintergrund den Horizont des Heiligen, Gottes, des Ewigen, einer höheren Wirklichkeit oder Macht.

Sinnhelfer deuten das Leben im Horizont des Ganzen. Religion deutet das Leben über kurzfristige Interessen hinaus im heiligen Horizont (der Garten ist nicht nur Nahrung, Genuss, Romantik, Arbeit, Ökologie ..., sondern auch Geborgenheit, Schöpfung, Geschöpflichkeit, also - auch religiös - gedeutete Wirklichkeit).
Die Sinnhelfer deuten auch durch die Art, wie sie zusammenfassen und würdigen ("das ist sicher Ihr kleines Paradies"), das stellt den Garten in den größeren Horizont. Sinnhelfer helfen bei Lebensdeutung und Sinnsuche. Sie machen nicht den Sinn und die Deutung, sie helfen nur beim Finden. Auch beim Abstand zum Guten, also wenn der Patient etwas entbehrt oder zur Zeit nicht tun kann, dann ist seine Sehnsucht, seine Trauer, sein inneres Verbundensein mit dem Ersehnten wichtig für die Deutung seiner Situation. Der Helfer hat sein Ziel erreicht, wenn "das Herz brennt". Die Symbole, die er mit dem Patienten erschließt, sind wie Depot-Spritzen, sie haben eine Depot- oder Retardfunktion: Sie bleiben beim Patienten, auch wenn der Helfer weggeht. Der Patient kann sich in diesem Symbol aufhalten, es weiter meditieren, es für sich weiter erschließen und damit sein eigenes Selbstverständnis weiter entfalten. Das Geheimnis mitbringen und es für dich aufschließen, das ist Seelsorge im weitesten Sinn. Aber es muss in dir (Patient) zur Musik werden: Die Musik (der Symbolgehalt) draußen muss zum Geheimnis drinnen werden.

Der Mensch symbolisiert nicht erst, wenn er krank ist oder unbewußte Konflikte hat (Sigmund Freud), sondern weil er Mensch ist: Was ihn zutiefst bewegt, das teilt er symbolisch mit, das Wesentliche der Person. Er symbolisiert nicht nur, weil er sonst keine Worte hätte oder sich verstecken will. Er symbolisiert, weil er mehr über sich ausdrücken will als Tatsachen zu sagen. Ebenso ist die menschheitliche und religiöse Weisheit, die der Helfer mitbringt, das Tiefste was wir ihm mitgeben können: Da ist Sinn drin und Gefährdung, das Gute und das Schlimme des Lebens wird aufgefangen und gedeutet. Das setzt natürlich die Kunst der Helfer, der Spiritualitätshelfer voraus, mit den Symbolen der Patienten hilfreich und vertiefend umzugehen und die Symbole nicht falsch, verletzend, für eigene Zwecke umdeutend zu nutzen. In den persönlichen Symbolen erscheint die ganz individuelle spirituelle Gestalt eines Menschen Deshalb gilt es auch die 'kleinen', oft unscheinbaren oder verschämt geäußerten Symbole gerade alter Menschen zu würdigen.

(3) Der dritte Zwischenraum ist DAS BEGEHEN. Also die Verbindung von MENSCH-HEITLICHEN KONZEPTEN und konkretem TUN und Ausdruck. Es gibt Lebenswirklichkeiten, die kann man nicht "begleiten":
Angefangen von den großen Übergängen: Geburt, Kind sein, Erwachsen werden, Partnerschaft, Heiraten, Sterben, Tod. Dies alles ist nicht erklärbar, sondern nur begehbar,

bis hin zu Trauerwegen und Sterbeverläufen, die man nicht einfach "begleiten" kann (z.B. die Schlaflosigkeit der ganzen Nacht, die Appetitlosigkeit usw.).
Die Religion stellt diese großen Übergänge und die Durchgänge des Lebens in den Segen eines 'ganz Anderen'. Als Helfer gebe ich nur Geleit: Ich begleite bis ans Tor - den Weg muss der Betreffende selbst gehen. Aber der Ritus ist eine Art Mantel, Nahrung. Der Ritus macht Übergänge begehbar, auch die Todeszone. Wie die Mutter am Abend für ihr Kind den Übergang in die Nacht begehbar macht, durch eine Geschichte, eine Geste, ein Kreuzzeichen. Die Weisheit der Religion sagt: Dein durch ein Ritual noch unbekannter Weg führt in das Geheimnis allen Lebens. Was Du durchmachen mußt, dafür haben wir einen Modelldurchgang, den Ritus. Dein Weg ist allgemein (Menschheitskonzept) und persönlich, du mußt ihn selbst tun. Jedem Ritus muss allerdings die Symbolisierung, die 'Ladung' vorausgehen: Dann erst wird der Anschluss an die große Transzendenz gefeiert. Religiöse Rituale sind keine therapeutischen Rituale. Therapeutische Rituale schließen einen psychischen Prozess ab, religiöse Rituale eröffnen einen Weg, den der Begleiter nicht mehr weiter in der Hand hat, sondern den er einem Anderen anvertraut.

Segnen heißt: mein kleines Leben wird vor eine höhere Macht gebracht. Zum Beispiel Kreuzzeichen, Gebet, Kommunion, Segen, Letzte Ölung, Reisesegen... . Das ist eine spezifische Aufgabe der Seelsorge. Krankenschwestern und Ärzte haben andere, eigene (hilfreiche und verhindernde) Rituale. Das Begehen gilt auch komatösen oder verwirrten Patienten. Oft machen sie das Kreuzzeichen, auch wenn sie vorher wie bewußtlos dagelegen haben, eine Träne kommt, ihre Lippen bewegen sich. Das religiöse Tun weckt den religiösen Horizont: Es aktiviert das Menschheitswissen, das spirituell gedeutet wird.
Dies alles ist der DREIPASS DER SEELSORGE: BEGLEITEN, SYMBOLISIEREN, BEGEHEN. (Abb. 3)

(4) Dieses Modell hat noch eine Leerstelle: Die MITTE. Das ist zunächst das 'Loch', das Menschen in Krankheit oder angesichts des Sterbens empfinden. "Warum ?" - fragen Menschen in Krisen. Die Mitte ist das Unverfügbare, das nicht Machbare. Menschen fragen: was hat mein Leben jetzt noch für einen Sinn? Die zentrierende Mitte fehlt, sie empfinden sich nur noch in Teilen. Zugleich ist darin die Frage nach der verbindenden Mitte, die Denken/Fühlen/Tun zum Ganzen macht. Die MITTE ist das Loch und zugleich die Radnaabe, um die sich alles dreht, DAS GEHEIMNIS DER PERSON, und zugleich die sinngebende Mitte, die HEILIGE WIRKLICHKEIT.

Wie aber kann man über Sinn reden? Ich kann als Helfer dem Patienten nicht den Sinn geben. Meine These ist: SINNFRAGE und IDENTITÄTSFRAGE sind miteinander verkoppelt. (Abb 4)
Der Sinn ist an Gestaltungsorte gebunden: Das sind die Identitätsmomente des Menschen. Das sind z.B. Leib, Geschlecht, soziale Beziehungen, Heimat, Haus, Umgebung, Besitz, Beruf, Hobby, Urlaub, Erinnerungen, Werte; geistiger oder spiritueller Horizont.
IDENTITÄT ist die Bündelung aller Identitätsmomente. Bei Krankheit oder "Umzug" ins Altenheim bricht das Bündel der Identitätsmomente auseinander: Ich bin nicht mehr, der ich einmal war.

Sinnsuche ist: Identitätsentwürfe und Selbstentwürfe von mir aus in die Welt setzen und sehen, ob es eine Sinn-Antwort darauf gibt. Es genügt nicht, einer Sache nur eine Bedeutung zu geben, ich muss die Bedeutung auch suchen und finden, die Wirklichkeit gibt mir auch Antwort auf meine Sinn- und Selbstentwürfe. Die Sinn-Resonanz ist wichtig.
Es gibt einen SINN IM VORDERGRUND: Das normale Leben (z.B. dass ich jeden Tag zur Arbeit gehen kann).
Es gibt einen SINN IM HINTERGRUND: Wer bin ich vor dem Welthintergrund/Kosmos/all-Einen/Geist/höherer Macht... .
Der Mensch sucht nach einem Hintergrund, der alles umfaßt ("alles ist zuletzt gut"). Sich im Ganzen der Welt verstehen wollen, auch wenn mir etwas fehlt (in meinen Identitätsmomenten). Für diesen Sinn im Ganzen hat heutzutage jeder ein eigenes "Fenster".
Die ERSTE IDENTITÄT ist: Alltägliche Identifizierungen (ich fahre heute ins Büro, pflege Menschen, habe ein Haus, Enkel ...).
Die TIEFSTE IDENTITÄT ist: Das Geheimnis der Person, das innerste SELBST, das auch dann noch einen Sinn hat, wenn bei Krankheit oder Sterben Identitätsmomente wegfallen.

SINN IM HINTERGRUND bedeutet: Dass es überhaupt eine Resonanz zwischen den Selbstentwürfen und der Wirklichkeit gibt (Sinnantwort). Die "Sonne" im Hintergrund macht den Vordergrund des Lebens sichtbar. Der heilige Horizont ermöglicht, dass Leben sich erfüllt und im Ganzen umfassend Sinn hat. Religion ist eine "Linse", die gut geschliffen sein muss, die alle, auch die dunklen Strahlen des Lebens sinngebend bündeln kann.

Wichtig ist: Die Methoden machen nicht das Loch zu, sie füllen es nicht auf (Trauer, Abschied, Sterben), sondern sie ergeben einen hermeneutischen Prozess für den Weg: Symbole sind dynamisch, verschiedene Stationen auf dem Weg haben verschiedene Symbole nötig. Symbole reizen zu einem Prozess der Auseinandersetzung.

SPIRITUALITÄT ist: Wie der Mensch die Beziehung zu diesem Sinn/Lebens-geheimnis erfährt und gestaltet. Das heißt wie er den Sinn erfährt und wie er die Sinnantwort bewertet (ob er sich verlassen, trostlos, dem blinden Schicksal gegenüber vorfindet oder Vertrauen hat, stille Freude, Gottesferne spürt, zuversichtlich ist, klagt ....).

ALLTAGS-SPIRITUALITÄT ist: Die alltägliche Sinngestaltung (z.B. "Garten" ist: Gute Ordnung oder "Mühe des Lebens" usw.).
GLAUBENS-SPIRITUALITÄT ist: Sich mit der heiligen Wirklichkeit in Verbindung bringen (z.B. der Garten der Patientin - das Paradies der Religion).
So kann das Loch zur Quelle werden (R. Smeding), aus der ein Mensch leben kann. Die Quelle ist kein festes Paket, sondern sie eröffnet Geschichte, sie erschließt sich im Gehen. (Abb. 5)

Jede Religion hilft heilen, jede Spiritualität ist gut, so lange sie einen guten, lebensfördernden, vertrauenswürdigen Strom ergibt. Das kann eine "kleine" Stammesreligion sein mit einem Schamanen als Priester oder das kann eine "große Religion" sein, die die Menschheit mit allen Widersprüchen im Kosmos zu deuten versucht. Das Geheimnis ist vielfältig interpretierbar. Menschen haben verschiedene Fenster zu diesem Geheimnis.

Einige zusammenfassende Punkte zum Schluss.
Mit dem MODELL VON DEN ZWISCHENRÄUMEN möchte ich zeigen, dass Menschen sich nicht nur über die bekannten Kanäle DENKEN/FÜHLEN/TUN äußern und sich darüber mit Alter, Krankheit und Trauer auseinandersetzen. In diesen Zwischenräumen ist bei weitem nicht nur die Seelsorge kompetent:
BEGLEITEN ist eine Basisqualifikation aller helfenden Berufe.
BEGEHEN ist eine Dimension aller Berufe - wobei Pflege, ärztliche Therapeuten, Altenheime ... eigene Formen von Ritualen haben. Seelsorge hat besondere Rituale (rituelle Handlungen und Riten).

Ebenso beim SYMBOLISIEREN: Patienten symbolisieren, weil sie damit ihrem Leben Bedeutung geben. Begleiter helfen, diese Symbole zu entschlüsseln, zu würdigen und sie dann bekräftigt, korrigiert oder vertieft dem Patienten 'zurückzugeben' als dessen eigene Ressource.
Über diese Kanäle BEGLEITEN/BEGEHEN/VERSTEHEN sucht die Seelsorge Zugang zum inneren System der Patienten und darüber kann sie den Menschen helfen, ihre Ressourcen in der Auseinandersetzung mit Alter, Krankheit, Sterben und Trauer zu finden. Das können alle helfenden Berufe aufgreifen, zuhören, es sich entfalten lassen und damit dieses innere System der Selbstvergewisserung stärken.

Die Seelsorge macht das ganz besonders, sie regt sogar diese Resonanz aktiv an, bringt sie bewußt zur Sprache und hilft dem Patienten, mit Hilfe des größeren Horizontes seine Sicht zu vertiefen und seinen Verarbeitungsraum zu erweitern. Sie holt sogar die großen menschheitlichen und religiösen Symbole herbei und schaut mit dem Patienten, ob sie seine "kleinen" Symbole vertiefen und ihnen eine eigene Kraft geben. Sie schaut, ob sie die kleinen an die großen Symbole anschließen kann, so dass die in den religiösen Symbolen deponierte Kraft und Weisheit die eigenen Symbole befruchten und ihnen eine auch bei Krankheit, Krise und Sterben wirksame Tragekraft geben können.

Also: Spirituelle Hilfe können alle Helfer geben - indem sie auf die spirituelle Unterschwingung der Patienten hören und sie mit ihnen würdigen. Man muss da nicht Theologe sein, wohl aber ein behutsamer Zuhörer und Begleiter und ein Mensch, der selbst etwas von der Weisheit des Lebens versteht (vom Paradies, von den Enkeln, von der Kunst usw, da hat jeder seine eigene Begabung). Alte Menschen, Kranke, Sterbende brauchen keine Therapie im Sinne von Psychotherapie; Menschen sind zu allen Zeiten alt geworden, auch ohne dass sie eigens eine Therapie bekommen haben. Aber sie brauchen Helfer, die auf der spirituellen Ebene aufmerksam sind.
Von der Stressforschung wissen wir, dass diese Dimension 'Spiritualität' eine eigene Qualität hat und eine unverzichtbare Hilfe im Leben und im Sterben ist.

Das Ziel ist nicht die Therapie des Alterns, sondern das Alt sein für den Betroffenen mit Hilfe von Begleitung, Symbolisierung und Ritualen, die Gefäße für die Spiritualität sind, begehbar zu machen. Soche Begleitung bedeutet:
Die "Tragflächen des Menschen verbreitern", nicht ihn selbst tragen wollen (R. Smeding). Die spirituellen Kräfte sind nachweislich die am tiefsten verankerten, bis zuletzt wirksamen und tragkräftigen Fähigkeiten im Menschen. So dass sich der Patient in guten Bildern des Lebens wiederfinden und seine Lebensbilanz in einen guten "Container" tun kann. Auch "Begehen" ist Sterbebeistand; rituelles Begehen, es muss nicht alles besprochen sein, nicht alles durchgearbeitet und bewußt gemacht werden. Es muss manchmal einfach nur getan und dargestellt werden. Die Rituale der Religionen (und die Rituale der Pflege und der anderen therapeutischen Dienste) haben einen eigenen Symbolgehalt und sie bedeuten dem Patienten etwas, was man oft garnicht anders ausdrücken kann. Es muss also nicht alles bewußt gemacht und durchgearbeitet werden! Im Gegenteil: wir begegnen auch Menschen, die sich nicht ausdrücken und nicht durcharbeiten können und dennoch bringen wir den großen Horizont - am Ende: den Heiligen Horizont - mit, in dem alles Leben und Sterben steht.

 

Literatur:
E. Weiher, Mehr als Begleiten - ein neues Profil für die Seelsorge im Raum von Medizin und Pflege,
Mainz, 1999
E. Weiher, Die Religion, die Trauer und der Trost - Seelsorge an den Grenzen des Lebens. Mainz, 1999
Erhard Weiher, geb. 1941, dipl. phys. et theol.
Ausbildung in Themenzentrierter Interaktion (TZI), therapeutischer Seelsorge und Trauerbegleitung (R. Smeding), Fortbildungstätigkeit für klinische und pastorale Berufe, kath. Pfarrer an den Universitätskliniken Mainz.


   

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