Professur für Wirtschafts- und Sozialgeschichte | Geschichte der Professur

Geschichte der Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Ruperto Carola

Die Wurzeln der Wirtschafts-und Sozialgeschichte an der Universität Heidelberg liegen im Kaiserreich und sind untrennbar mit dem Namen Max Webers verbunden. Sein Wirken hat die Heidelberger Staatswissenschaften – wie das Fach vor seiner disziplinären Ausdifferenzierung hieß – international bekannt gemacht. Der liberale und wissenschaftlich innovative "Heidelberger Geist" zog junge und gesellschaftskritische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler an die Ruperto Carola.

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Alfred Weber im Alfred-Weber-Institut, 1955
(Universitätsarchiv Heidelberg, UAH Pos I 03192)


Zu ihnen gehörte der jüngere Bruder Max Webers, Alfred, der 1907 in Heidelberg einen Lehrstuhl für Nationalökonomie erhielt. Alfred Weber war für die Entwicklung der Wirtschafts- und Sozialgeschichte ein Glücksfall, da er ökonomische Expertise mit einem ausgeprägten, auch politischen Interesse an gesellschaftlichen Entwicklungen verband. Dies schlug sich ab 1926 in einem Doppellehrstuhl nieder – Alfred Weber wurde zusätzlich Ordinarius für Soziologie. Bereits zwei Jahre zuvor hatte er die Umbenennung des Volkswirtschaftlichen Seminars in „Institut für Sozial- und Staatswissenschaften“ erreicht, was die neue wissenschaftliche Ausrichtung widerspiegelte. An diesem Institut und seinen Forschungsgebieten lässt sich die Ausdifferenzierung der klassischen Staats- und Kameralwissenschaften in die wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Teilfächer nachvollziehen.


Ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu einer eigenständigen Wirtschafts- und Sozialgeschichte war getan, auch wenn die Entwicklung in der Zeit des Nationalsozialismus unterbrochen wurde. Um einer Entlassung zuvorzukommen, schied Alfred Weber 1933 freiwillig aus dem Lehramt aus. Die bestehenden Institute für Sozial- und Staatswissenschaften, Zeitungswesen, Dolmetschen, Volkswirtschaftslehre und Statistik wurden gleichgeschaltet. Ein Erlass des Badischen Kultusministeriums stellte sie unter dem Dach der Staats- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät in den Dienst der nationalsozialistischen Ideologie. Sowohl hier als auch im Historischen Seminar entstanden Institute, deren Aufgaben vor allem propagandistischer Natur waren.
 

Nach dem Ende der nationalsozialistischen Herrschaft kehrte Alfred Weber an die Universität zurück und übernahm das Dekanat der Staats- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät. Es sorgte mit der Entlassung von Professoren, der Schließung von Instituten und der Auflösung der Fakultät – Teile wurde in die Philosophische Fakultät integriert – für einen Bruch mit der nationalsozialistischen Vergangenheit. Auch im Historischen Seminar kam es zu Entlassungen und Schließungen; zugleich existierten personale Kontinuitäten. Ende der 1990er Jahre wurden sie zum Gegenstand öffentlicher Diskussionen. Die Rolle beispielsweise Werner Conzes und Otto Brunners im Nationalsozialismus war Gegenstand von Debatten auf dem Historikertag 1998.
 

Für die Etablierung der Wirtschafts- und Sozialgeschichte als eigenständiges Fach stellten die späten 1950er Jahre den entscheidenden Wendepunkt dar. Durch die gemeinsamen Anstrengungen des Historikers Fritz Ernst und der Wirtschaftswissenschaftler Wilhelm Meinhold und Erich Preiser fand die Nationalökonomie ihre Ergänzung durch den 1956 eingerichteten Lehrstuhl für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Er wurde mit Erich Maschke besetzt. Der ausgebildete Mittelalterhistoriker mit nationalsozialistischer Vergangenheit erforschte insbesondere die Regional- und Stadtgeschichte. Gemeinsam mit Werner Conze leitete er das Institut für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, das aus dem Institut für moderne Sozialgeschichte hervorging. 

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Werner Conze, Vorlesung, Jahr unbekannt
(Universitätsarchiv Heidelberg, UAH Pos I 06641)

Die Etablierung der Wirtschafts- und Sozialgeschichte und mit ihr der Ausbau des Historischen Seminars sowie die thematische Erweiterung der Heidelberger Geschichtswissenschaft sind ohne Werner Conze nicht zu denken. Er forderte eine Geschichtsbetrachtung, die gesellschaftliche Faktoren bei der Erforschung der Vergangenheit berücksichtigt und stärkte die Interdisziplinarität sowie die Internationalität des Faches. Seine Vorstellungen setzte er im 1957 gegründeten, interdisziplinär ausgerichteten Arbeitskreis für moderne Sozialgeschichte um. Zusammen mit dem Geschichtstheoretiker Reinhart Koselleck und dem Mediävisten Otto Brunner gab er die Geschichtlichen Grundbegriffe heraus – bis heute ein Standardwerk im Fach.


Bereits 1968 übernahm Eckart Schremmer nach der Emeritierung Erich Maschkes den Lehrstuhl für Wirtschafts- und Sozialgeschichte und die Leitung des Instituts – bis Ende der 1970er Jahre an der Seite von Werner Conze. Der Wirtschaftshistoriker arbeitete zur Finanzgeschichte, erforschte die Entwicklung des Steuerwesens und Veränderungen der Produktionsstruktur. Ab 1979 stand ihm der Historiker Volker Sellin als Conzes Nachfolger in der Leitung des Instituts zur Seite. Der spätere Rektor der Universität Heidelberg arbeitete zur europäischen Geschichte des 17. bis 20. Jahrhunderts, insbesondere zur Landes- und Verfassungsgeschichte sowie zu Absolutismus und Nationalismus.


Die sogenannte kulturalistische Wende in der Geschichtswissenschaft seit Mitte der 1990er Jahre, die Durchsetzung quantitativer Methoden und eine dominierende prognostische Orientierung in der Ökonomie entfremdete die beiden Fächer in Heidelberg. Im Zuge der Gründung der Fakultät für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften wurde das Institut für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Anfang der 2000er Jahre aufgelöst.


Wenige Jahre später gelang es im Rahmen der Exzellenzinitiative, die entstandene Lücke im Historischen Seminar zu schließen. Seit 2009 ist Katja Patzel-Mattern Professorin für Wirtschafts- und Sozialgeschichte. Die Historikerin arbeitet über Ansätze der Wirtschaftskulturgeschichte, die Geschichte von Krisen und Katastrophen und über das Verhältnis von Arbeit und Produktion seit dem 19. Jahrhundert. Besonders interessiert sie sich für die Erfahrungen der historischen Akteure, ihre Art, Leben und Zusammenleben in unterschiedlichen Konstellationen zu gestalten und dafür, wie sie Wahrnehmungen ihrer Zeit kommunizieren. Ihre Arbeiten fundiert sie institutionentheoretisch. So können neue Brücken zu den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften gebaut werden.

 

 


Mehr historische Bezüge finden Sie auch in den Heidelberger Profilen. 

Hier finden Sie unter anderem Portraits von Marianne WeberMax Weber, Alfred Weber und Hannah Arendt. 

 

 

Seitenbearbeiter: E-Mail
Letzte Änderung: 08.03.2024
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