Heidelberger Förderpreis 2005

aus: FAZ

Montag, 5. Dezember 2005, Nr. 283



Vorsicht, Porzellan


Heidelberger Förderpreis: Rettet die Klassische Philologie!

Die Klassische Philologie wird an den deutschen Universitäten allenfalls noch als Hilfswissenschaft geduldet, sie steht unter dem fortwährenden Zwang, ihre Nützlichkeit zu erweisen. Sie soll Pädagogen zur Sprachkenntnis und Historikern wie Philologen zum Quellenstudium verhelfen. Eigene Erkenntnisse und eine in ihr selbst begründete Existenzberechtigung traut ihr kaum noch jemand zu. "Das Skandalon der Klassischen Philologie soll sein, daß sie selber denkt", klagt der Heidelberger Latinist Jürgen Paul Schwindt und verweist zu Recht auf die Multidisziplinarität, die der Altphilologie zu eigen ist.

Die Heidelberger Fakultät für Klassische Philologie, die selbst von einer jahrelangen Vakanz der Gräzistik betroffen ist, hat deshalb gemeinsam mit dem Universitätsverlag Winter einen Förderpreis für Nachwuchswissenschaftler vergeben, der ein Preisgeld von 1500 Euro sowie die kostenlose Drucklegung der Preisschrift umfaßt. In diesem Jahr hat ihn der Berliner Privatdozent Martin Vöhler für seine Habilitationsschrift "Pindarrezeptionen. Sechs Studien zum Wandel des Pindarverständnisses von Erasmus bis Herder" erhalten. Denn seine Arbeit verfolge die exemplarische Darstellung der gesamteuropäischen Nachwirkung des altgriechischen Lyrikers "als Paradigma verschiedener Diskurse: von der Rhetorik, Theologie und Philosophie bis zur Etymologie, Übersetzungstheorie, Kulturgeschichte, Poetologie und Geschichtsphilosophie", heißt es in der Laudatio, die damit genau jenes Eigenrecht des literarischen Textes hervorhebt, das selbst die Literaturwissenschaft zu bestreiten droht.

Denn die Unterscheidung zwischen Fiktion und historischer Wirklichkeit ist oft genug ganz in Vergessenheit geraten und wird von der Kulturwissenschaft ganz und gar "kassiert". Der zur Zeit an der Stanford University lehrende Literaturwissenschaftler Karl Heinz Bohrer hielt als Mitglied der Preisjury deshalb ein flammendes Plädoyer für eine reflexive Literaturwissenschaft auf hohem Niveau. Der Gegenstand der Literaturwissenschaft sei nicht die Realität, sondern die subjektive Sprache der Phantasie einzelner Künstler, die Literatur besitze also eine gänzlich andere Qualität, die bei ihrer kulturwissenschaftlichen Vereinnahmung prinzipiell verlorengehe. "Das Kunstverständnis wurde zugunsten von Kulturwissen ausgetrieben", sagte Bohrer über jene Literatur, die innerhalb der Universität seit geraumer Zeit umstritten, vor allem aber bei den meisten Studenten nicht mehr vorauszusetzen ist.

Vom Studenten sei nicht mehr erwartet worden, kraft eigener analytischer Konzentration im unendlichen Strom des poetischen Verfahrens begriffliche Anhaltspunkte herauszukristallisieren, sondern etwas ihm Geläufigeres einfach zu identifizieren. Inzwischen werde das Eigenrecht der philologischen Tradition so sehr in Frage gestellt, daß Wissenschaftsministerien und andere "wissenschaftlich inkompetente Kontrollkörper" (Bohrer) nach der Aktualität der toten Dichter fragten. Sie stellen sich damit in unmittelbare Tradition zum einstigen Wissenschaftsminister von Nordrhein-Westfalen, späteren Ministerpräsidenten und Bundespräsidenten, der öffentlich zur Diskussion stellte, was denn das Schreiben von Büchern über Bücher mit Wissenschaft zu tun habe.

Anstatt sich selbstbewußt zu behaupten, sind nach Bohrers Beobachtung aber auch einige philologische Fakultäten selbst dem Wahn verfallen, "Anschluß" halten zu wollen. Gemeint ist damit nicht mehr, als sich dem schlichtesten gemeinsamen Nenner anzuschließen. Doch der Versuch, den literarisch-künstlerischen Kanon der technokratischen Anschlußfähigkeit wegen durch sogenannte Kultur zu ersetzen, sei zum Scheitern verurteilt. Vielmehr treffe sich die Entwertung des literarischen Kanons innerhalb des Literaturstudiums mit der Entwertung des Ästhetischen im kulturwissenschaftlichen Textverständnis. Nur wer die Fähigkeit besitze, die ästhetische Struktur der klassischen Literatur zu erkennen, werde ein reflexives Verhältnis zu sich selbst gewinnen. Denn er identifiziert nicht, schließt nicht an, sondern nimmt Fremdes als Fremdes wahr.

"Dieses Verstehen literarischer Motive, von Metaphorik und Stil als literarischen Zeichen ist nach wie vor die sinnvollste Vorbereitung für die intelligente Deutung unserer aktuellen kulturellen und politischen Erscheinungswelt", sagte Bohrer, der in den sechziger Jahren den Literaturteil dieser Zeitung geleitet hat. Er appellierte an die Literaturwissenschaftler, nicht ihr kostbarstes Porzellan aus dem Fenster zu werfen, weil es weniger geworden sind, die aus ihren Tassen trinken wollen. Diese "wenigen" müßten bei der Umstrukturierung das Salz weitertragen, weil sie den einzig angemessenen Anschluß leisten könnten: den Anschluß an eine internationale Institution namens Literaturwissenschaft.

Heike Schmoll

Seitenbearbeiter: E-Mail
Letzte Änderung: 05.09.2011
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